Ist dick gesünder als schlank?

Laut einer aktuellen Studie leben übergewichtige Menschen länger als schlanke. Stimmt das? Zwei Experten erklären, warum es so schwierig ist, das ideale Gewicht zu definieren – und warum der BMI nur bedingt dafür taugt

Jeans XXL und S
Gilt künftig wirklich „Lieber ein paar Kilo mehr als zu wenig“? Wenn es nach der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht, wohl kaum. Für Erwachsene über 20 Jahre liegt laut WHO der Normalbereich für den Body-Mass-Index (BMI) – also die Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts eines Menschen in Relation zu seiner Körpergröße – zwischen 18,5 und 24,9. Das Argument: Mit steigendem BMI nimmt das Risiko für chronische Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdrucksowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu und damit das Risiko, vorzeitig zu versterben.

Leben Übergewichtige am längsten?

Eine dänische Studie kam kürzlich zu anderen Ergebnissen. Forscher von der Uniklinik Kopenhagen verglichen die Daten von mehr als 100.000 Menschen, die bei Studienbeginn 50 bis 60 Jahre alt waren. Die Daten gehören zu drei Studiengruppen für die Zeiten 1976 bis 1978 (Gruppe 1), 1991 bis 1994 (Gruppe 2) sowie 2003 bis 2013 (Gruppe 3). Ziel der Untersuchung war es, den BMI zu finden, der statistisch gesehen mit dem geringsten Risiko eines frühzeitigen Todes assoziiert war. Dieser Body-Mass-Index lag in Gruppe 1 bei 23,7, in Gruppe 2 bei 24,6, in Gruppe 3 stieg er auf 27. Das Fazit: Der Body-Mass-Index, mit dem Menschen am längsten leben, liegt im Bereich leichten Übergewichtes – und erstaunlicherweise nicht beim Idealgewicht.  Weniger überrascht dagegen, dass Untergewicht und Fettleibigkeit nicht gesünder sind als leichtes Übergewicht.

Heißt das nun: Schlanksein bringt nichts? Und warum sollte sich der gesündeste BMI im Laufe der Jahre überhaupt verschoben haben? Die Studienautoren vermuten, dass es an der besseren medizinischen Versorgung übergewichtiger Menschen mit Bluthochdruckmitteln, Cholesterinsenkern und Diabetesmedikamenten liegt. Professor Norbert Stefan, der die Abteilung für klinisch-experimentelle Diabetologie an der Uniklinik Tübingen leitet, sagt dagegen: „Es ist sehr wahrscheinlich ein Rechenfehler und liegt an den unterschiedlich langen Nachbeobachtungszeiten, vor allem aber an der viel zu kurzen Nachbeobachtungszeit bei Gruppe 3.“ Während Gruppe 1 etwa 24 Jahre nachbeobachtet wurde, waren es bei Gruppe 2 knapp 16 Jahre und bei Gruppe 3 gerade mal sechs Jahre.

Die Studie sei an sich gut gemacht. „Hätte man die Analyse  erst 2020 durchgeführt, dann wäre das Übergewicht weit weniger schützend. Bei einer Nachbeobachtungszeit, vergleichbar jener der beiden anderen Gruppen, hätte sich der BMI nicht verändert“, sagt Norbert Stefan. Man könne deshalb nicht schließen, dass ein höherer BMI besser fürs Überleben ist. Das sieht auch der Ernährungsmediziner, Diabetologe und Endokrinologe Professor Hans Hauner, Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München so. „Die Beobachtungsdauer spielt eine wichtige Rolle für die Aussagekraft. Bei so unterschiedlichen Beobachtungszeiten ist ein korrekter Vergleich kaum möglich.“

Die Tücken des BMI

Der BMI ist laut Experten zudem nur ein grober Parameter mit begrenzter Aussagekraft. Er berücksichtigt nicht die individuelle Zusammensetzung der Körpermasse aus Fett- und Muskelgewebe. „Das Normalgewicht verspricht statistisch gesehen die höchste Lebenserwartung. Ein BMI von 27 muss aber nicht zwangsläufig eine schlechtere Lebenserwartung bedeuten. Das wird heute gerne maßlos überzogen“, sagt Hans Hauner.

„Es gibt Menschen, die gut trainiert und muskulös sind und deshalb einen BMI im Übergewichtsbereich haben. Sie sind aber möglicherweise gesünder als jemand, der einen BMI von 23 hat und keinen Sport treibt. Auch der Körperbau muss berücksichtigt werden“, sagt Stefan. An sich schlanke Menschen, die einen gewissen Bierbauch, hohen Blutdruck oder erhöhte Cholesterinwerte haben, haben ein erhöhtes Risiko für einen vorzeitigen Tod, betont Stefan. „Es ist höher als jenes bei gesunden Dicken“, warnt der Tübinger Mediziner. Schlank heißt also nicht automatisch gesund. Um Krankheiten frühzeitig zu entdecken, sollten deshalb schlanke wie fülligere Menschen ab 35 Jahren alle zwei Jahre den Gesundheitscheck-up beim Arzt wahrnehmen, den die Krankenkassen bezahlen.

„Der BMI ist nur ein erster Hinweis“

Laut Hauner lässt sich nicht ein bestimmter BMI-Wert als gut angeben, sondern nur BMI-Bereiche. Nach Stefans Aussage gibt es zudem Parameter, die aussagekräftiger sind als der BMI, vor allem, wenn jemand bereits an der Vorstufe eines Diabetes, einem sogenannten Prädiabetes, leidet. Diese Menschen haben ein individuell ganz unterschiedlich erhöhtes Risiko für diverse Folgeerkrankungen: „Der BMI ist nur ein erster Hinweis, dass etwas aus dem Ruder laufen könnte. Der nächste Schritt ist, den Taillenumfang zu messen. Der Patient merkt selbst am besten, wenn die Hose anfängt zu spannen.“

Dann sei es wichtig, weitere Werte zu bestimmen beziehungsweise spezielle Untersuchungen vorzunehmen. Wer beispielsweise an einem Prädiabetes leidet, hat möglicherweise auch eine verdickte Halsschlagader oder Fettleber, beides Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Krankheiten wie Herzinfarkt oder Schlaganfall.

Interessanterweise zeigen Studien, unter anderem von Stefan und seinen Kollegen, dass sich gerade solche Risikofaktoren durch eine Lebensstiländerung meist schnell verbessern lassen. Das ist für die Patienten äußerst motivierend.

Darf’s im Alter ein bisschen mehr sein?

„Der BMI hat im höheren Alter einen eher geringen Stellenwert“, sagt Hauner. Menschen, die leicht übergewichtig sind, haben Reserven für Zeiten, in denen sie krank sind. Haben sie jedoch noch zusätzliche Begleiterkrankungen, kann auch leichtes Übergewicht nachteilig sein. „Es kommt stark auf den Einzelfall an“, warnt Hauner.  Ein BMI über 30 sei in jedem Fall zu viel. Das sieht auch Stefan so.

(Quelle: Gerlinde Gukelberger-Felix, Bildnachweis: W&B/Simon Katzen)